Ick gloob, ick spinne! D-Deerns Zweite beim NoRacism-Cup in Berlin
Perfekter Pfingstsonntag: Die 1. D-Deerns von Altona 93 erreichen beim „NoRacism-Cup“ sensationell den 2. Platz. Das Team von Coach Jay wird im Finale erst im Neunmeter-Schießen von Gastgeber FC Internationale bezwungen. Sensationell auch: Die Unterstützung der Berliner Oldtimer-Ultras aus dem Familienkreis einiger Spielerinnen. Hör ma uff…
Geehrte AFC-Gemeinde, so lasst uns kurz innehalten und das Wort der Bibel sprechen lassen. 2. Kapitel der Apostelgeschichte, Verse 1-4: „Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder.“ Ja, so war das einst, als am 49. Tag nach dem Ostersonntag die „Kraft aus der Höhe“ auf die Erde wehte und man dies fortan als Pfingsten feierte. Und so ähnlich war es auch am vergangenen Pfingstsonntag in Berlin. Natürlich nicht genauso – Stichwort „Gleichnis“. Das Brausen vom Himmel, das waren die Vengaboys, deren verschwitzte Variante des alten Calypso-Klassikers „Feeling Hot Hot Hot“ aus den Boxen dröhnte. Der Himmel selbst, er stand ganz banal für den, klar, Himmel. Der spannte sich makellos blau über Berlin-Schöneberg. Die „Zungen wie von Feuer“ nun… Wer weiß es? Wer weiß es? Ja, Du dahinten mit dem schwarz-weiß-roten Hemd und dem Pferdeschwanz… Richtig! Sonnenstrahlen. Sehr, sehr viele Sonnenstrahlen. Es war heiß. So heiß, heiß, heiß, dass die Pferdeschwänze glühten, und der grüne Kunstrasen ebenso. Der Kunstrasen des FC Internationale übrigens. Denn das war „der gleiche Ort“, an dem sich „alle“ befanden – 12 Mädchen-Fußballteams aus ganz Deutschland. Und damit ist die heutige Bibelstunde beendet. Puh und Amen.
Ja, und nun fassen wir uns alle bei den Händen, schlagen die Hacken der Fußballschuhe drei Mal zusammen und apparieren uns gemeinsam ein paar Tage zurück. Bahnhof Altona, kurz nach halb sieben Uhr morgens. Der EC 173 nimmt Fahrt auf Richtung Budapest. Ganz so weit aber wollen Trainer Jay und seine D-Deerns heute nicht fahren. Sie werden in einem kleinen Weiler auf halber Strecke aussteigen: in Berlin.
Denn dort veranstaltet der FC Internationale den „NoRacism-Cup 2019“: Ein Pfingstturnier, das ein Zeichen setzt gegen Rassismus. Ein Sportfest, das für Respekt, Toleranz und Solidarität steht. Ins Leben gerufen von einem Verein, der sich bereits in den frühen achtziger Jahren für Frieden und gegen Waffen stark machte. In biblischer Vorzeit, als die Eltern der heutigen Spielerinnen selbst im besten D-Alter waren. Ein Verein, der statt eines Sponsorennamen „No Racism“ auf den Trikots seiner Mannschaften stehen hat. Klar, dass bei diesem Turnier die Farben Schwarz-Weiß-Rot nicht fehlen dürfen!
Coach Jay kann auf zehn Deerns für das Turnier auf dem Achterfeld zählen: Sieben Spielerinnen seiner 1. D schwänzen die Pfingstwochenendpläne mit der Familie. Dazu kommen drei vielversprechende Talente aus der 3. D. Zusammen rollen am Sonntag also Ana-Luisa, Ella, Emilia, Emma, Juli, Lina, Lotta, Luna, Maj und Mia gen Hauptstadt. Ankunft am Bahnhof Berlin-Südkreuz um kurz nach neun, dann noch zehn Minuten Warmlaufen vom Bahnhof zum Sportplatz „Am Südkreuz“, von Einheimischen auch „Inter-Arena“ genannt.
Der FC Internationale bespielt hier eine schöne Kunstrasenanlage, umfriedet vom beschaulichen Grün der Kleingartenkolonien „Bergfrieden“ und „Einigkeit am Priesterweg“. Vor der Arena parkt der Bus des FC St. Pauli, und zwar der echte, der große, der mit Totenkopf-Graffiti und bequemen Luxussitzen, mit dem normalerweise die Profispieler des Zweitligisten nach Sandhausen oder neuerdings St. Ellingen rollen. Heute durften damit offenbar die beiden D-Mannschaften von St. Pauli anreisen. Das steht dann doch im Kontrast zu Coach Jay, der tapfer seinen Hackenporsche mit den Trikots und dem 1.-Hilfe-Koffer durch das morgendliche Berlin gezerrt hatte. Im Schlepp sein zwar morgenmüdes, aber vor Vorfreude vibrierendes Team.
Und das muss jetzt gleich ran. Punkt 10 Uhr ist Anpfiff zur ersten Partie gegen die Mädels vom MTV Groß-Buchholz aus Hannover. 12 Teams sind insgesamt beim Turnier dabei. Und die kommen aus allen Himmelsrichtungen. Aus Berlin, aus Brandenburg, aus Niedersachsen, aus Hamburg – sogar aus dem fernen Freiburg ist eine Mannschaft angereist. Die Teams sind in drei Viergruppen aufgeteilt, zehn Minuten dauert jede Partie. Am Ende dann werden nur die Gruppenersten sowie der beste Gruppenzweite ins Halbfinale kommen und um den „NoRacism“-Pokal mitspielen. Das aber ist – zunächst – gar nicht Trainer Jays Turnierziel. „Wir wollen hauptsächlich Spaß haben“, sagt der erfahrene Jugendcoach, der an diesem Tag auf einige Stammspielerinnen verzichten muss.
Ist’s dann tatsächlich die neue Formation? Oder eine Folge des frühen Weckerklingelns? Die bereits am Vormittag beißende Berliner Pfingstsonne? Vermutlich eine Mischung aus allem. Jedenfalls tut sich das Altonaer D-Team erst etwas schwer. Im ausgeglichenen Spiel gegen die Groß-Buchholzerinnen geht es hin und her. Echte Torchancen aber sind, Achtung, festhalten, Fußballfloskel: Mangelware. Bis zur letzten Minute: Da setzt Emilia zu einem ihrer dynamischen Flankenläufe an, spart sich aus Zeitgründen den Durchmarsch bis zur Grundlinie, flankt frech und stramm aus dem linken Halbfeld in den Strafraum. Dort hat sich Maj etwas Raum verschafft, sie steigt hoch, sie wird doch nicht, doch sie wird, ick gloob et hackt, sie geht mit dem Kopf zum Ball, trifft die Kugel perfekt und lenkt das Ding knallhart ins rechte untere Eck des Tores: 1:0. Der erste Kopfball in der jungen Karriere der Offensivspielerin, die im vergangenen Jahr selbst viele Halbzeiten im Rahmen ihres zweiten Bildungsweges zur Torhüterin zwischen den Pfosten verbracht hat. Abpfiff, drei Punkte, dankeschön.
Im zweiten Spiel geht es gegen die rot gekleideten D-Mädchen des FV Rot-Weiß Hellersdorf aus Berlin. Mittlerweile hat sich am Spielfeldrand eine stattliche Fangemeinschaft von Altona 93 versammelt. Die Hauptstadt-Ultras, bzw. -Oldras, feuern das Hamburger Team an: Die Großeltern von zwei Spielerinnen – in einem Fall sogar identisch mit den Schwiegereltern des Trainers – leben in Berlin. Sie lassen sich den Auftritt der engagierten Enkelinnen natürlich nicht entgegen. Dazu kommen Tanten, Cousinen und ehemalige Grundschulfreundinnen der mitgereisten Trainergattin – eine lustige Gesellschaft hat sich da zusammengefunden.
Die D-Deerns wiederum haben ihren Rhythmus gefunden und lassen den Hellersdorferinnen kaum eine Chance. Egal, wer gerade auf dem Platz ist: Die Abwehr rund um Ella, Juli und Ana-Luisa steht, Tormädchen Emma muss kaum eingreifen. Im Mittelfeld organisiert Lina das Aufbauspiel, unterstützt von Mia und Lotta. Luna und Emilia stürmen über die Flanken, Maj lauert im Zentrum. Natürlich stehen immer nur acht zugleich auf dem Feld. Aus Platzgründen aber müssen wir das Geschehen im fortgeschrittenen Zeitraffertempo wiedergeben. Zwei Mal trifft Maj, einmal Emilia, Luna verdient sich einen Scorer-Punkt mit einer wunderschönen Flanke. Endstand 3:0.
Im dritten Spiel wartet der stärkste Gruppengegner: Die Mädels von SV Adler Berlin, die ihrerseits bereits 6:0 gegen Hellersdorf gewonnen haben. Und das in nur zehn Minuten, die, wie gesagt, jedes Spiel währt. Im Tor steht nun Lina. Hinter ihr hat der Großeltern-Tante-Cousine-Supportersblock Aufstellung bezogen. Daneben Oma und Opa von Ella. Fanclub-Motto: Mir is janz blümerant. Die Vibes der Verwandten aber setzen neue Kräfte frei unter der mittlerweile sengenden Saharasonne. Altona wirft sich in jeden Zweikampf. Insbesondere Luna zeigt bei ihren Läufen durchs Mittelfeld vorbildhaftes Tackling. Hinten haben je nach Einwechslung Ella, Juli, Mia, Lotta und Ana-Luisa alle Füße voll zu tun. Angriff um Angriff schwappt aus dem Mittelfeld heran. Nicht jeder lässt sich trockenlegen: Zwei Mal muss Lina hinter sich greifen. Das Spiel geht mit 0:2 verloren. Viel öfter aber kann die Altonaer Torhüterin die scharfen Schüsse der Berlinerinnen abwehren. Taucht bravourös in die Ecken und kratzt Bälle von der Linie, von denen selbst ein Manuel Neuer nur den Schatten gesehen hätte. Die Abwehrschlacht soll sich auszahlen…
Denn das gute Torverhältnis von 4:2 Toren bei sechs Punkten nach drei Spielen bedeutet: Halbfinale! Altona hat es als bester Gruppenzweiter in die Finalrunde geschafft! Jetzt muss das Motto der Auswärtsfahrt ergänzt werden. Zu „…hauptsächlich Spaß haben“ gesellt sich „Ran an die Buletten!“ Coach Jay schwört seine Deerns auf eine Mammutaufgabe ein. Denn wer wartet im Halbfinale? Der beste Gruppenerste, Adler Berlin, ausgerechnet. Denen war man ja bereits im dritten Vorrundenspiel 0:2 unterlegen. Unter mitgereisten Vätern wird schon fabuliert: Wer könnte der Gegner im Spiel um Platz drei sein? Gastgeber FC Internationale? Oder St. Pauli? Diese beiden Teams bestreiten nämlich das zweite Halbfinale. Und die Verlierer der Halbfinals treffen nach global gültiger Turniertradition bekanntlich im allseits beliebten Spiel-um-Platz-drei aufeinander.
Doch gültig ist auch: Die Wahrheit liegt auf dem Platz und nicht im halbseidenen Herumfabulieren von Spielerinnenvätern. Denn das passiert: Altonas D-Deerns kämpfen um jeden Quadratzentimeter Kunstrasen. Sie greifen an. Sie verteidigen. Sie flanken und fighten. Sie gehen in jeden Zweikampf. Der Ball ist ihr Freud, und den lassen sie sich nicht von irgendeinem Berliner Mädchen ausspannen. Adler verzweifelt. Doch ein Tor will nicht fallen. Emilia zieht tiefe Furchen auf der rechten Kunstrasenseite. Hier kann der Platzwart nächste Saison Kunst-Erdbeeren anpflanzen. Maj hingegen vermisst den Strafraum der Gegnerinnen wie die Fläche eines Parallelogramms im Mathematikunterricht. Dann der Moment des Glücks. Emilia hechtet durchs Mittelfeld wie eine junge Löwin in Fußballschuhen und mit einer besonders flinken Gazelle vor Augen. In zwei bis drei Wimpernschlägen hat sie das letzte Drittel der Schöneberger Kunst-Savanne durchquert. Sie erreicht die Grundlinie, flankt. Und zwar eine Champions-League-Flanke. Ach was, eine Flanke, die die Welt noch nicht gesehen hat. Eine Flanke, die so scharf und präzise und kniehoch vors Tor fliegt, wie nur eine Flanke am Pfingstsonntag fliegen kann, wenn der Heilige Geist vom Himmel herabrauscht und „Hot Hot Hot“ schmettert. Maj steht goldrichtig. Sie holt mit dem rechten Bein aus, alles natürlich in Nanomillisekunden, und drischt den Ball volley halbhoch ins Netz. 1:0. Endstand. Finale.
Das Finale: FC Internationale versus Altona 93. Auflauf der Mannschaften unter dem Jubel der Fans. Vorstellung einer jeden Spielerin mit Namen – beim FC Internationale weiß man, wie man’s macht. Das Spiel dann ähnelt – Achtung, Opa erzählt von früher – dem WM-Finale zwischen Brasilien und Italien 1994. Hin und her und her und hin – und keine Tore. Tormädchen Emma: grandios. Fliegt nach links, wirft sich nach rechts, hält stramme Aufsetzer und verkürzt jeden Winkel, den es zu verkürzen gilt. Das bedeutet: Neunmeterschießen. Und da verlässt das tapfere Team das Glück. Nur ein Schuss geht drüber, leider einer zu viel. Altonas Emma ist zwar ihrerseits an einigen Bällen dran, doch die sind letztlich zu gut, stark und platziert geschossen. Kein Wunder übrigens. Der FC Internationale bekam 2013 den DFB-Wissenschaftspreis verliehen. Und zwar für die Elfmeterforschung des Sportpsychologen und damaligen Spielertrainers der 1. Herren, Georg Froese. Der hatte in seiner Dissertation „Sportpsychologische Einflussfaktoren der Leistung von Elfmeterschützen“ untersucht – und offenbar ein solides Grundverständnis für die Verwandlung von Strafstößen in den Genen des Hauptstadt-Clubs verankert. Der FC Internationale gewinnt den NoRacism-Cup 2019. Herzlichen Glückwunsch!
Doch eine Pointe hat das Turnier noch parat. Bei der Siegerehrung wird die Torschützenkönigin gekürt. Maj von Altona 93 gewinnt dank vier schöner Turniertore die begehrte Trophäe!
Was für eine Reise. Es bestätigte sich die Leistungssteigerung der jungen Mannschaft. Die deutete sich schon seit Monaten an, als die 1. D von Altona 93 im Winter erst sensationell Vizepokalsieger des Hamburger Hallenpokal wurde, dann den La Rive Girls Cup in Henstedt-Ulzburg gewann und schließlich von Sieg zu Sieg eilte in der laufenden Neunerfeld-Saison. Hier steht übrigens am kommenden Sonntag (16. Juni, 13 Uhr, Baurstraße) noch das letzte und alles entscheidende Saisonspiel um die Staffelmeisterschaft gegen Bramfeld an. Neucoach Jay hat das Erbe von Trainerlegende und Taktik-Filou Fritz nicht nur bewahrt, sondern kongenial weiterentwickelt. Glücklich also marschiert das Team in Berlin unter der pfingstsonntäglichen Nachmittagssonne retour zum Bahnhof Südkreuz. Pünktlich fährt der Zug gen Altona. An Bord stolze, aber müde Deerns. Auf dem heimischen Bahnsteig warten die Eltern mit einer spontanen La-Ola-Welle. Abendbrot, früh ins Bett. Dit find ich schau, wie man in Berlin sagt.