Sturmlauf vor Kap Hoorn
Im letzten Spiel der Herbstsaison ging es für die 1. D Deerns von Altona 93 um viel: Die rote Laterne in der Tabelle sollten die Mädels vom Bramfelder SV bitteschön wieder mit nach Hause nehmen. Es entwickelte sich ein Heimspiel, das die Fußballfans in der „Arena an der Autobahn“ lange nicht vergessen werden – und die Schiedsrichterin übrigens auch nicht .
Die Fans im Stadion an der Loki-Schmidt-Grundschule sahen aus wie Seefahrer kurz vor Kap Hoorn. Eine Hand über den zusammengekniffenen Augen, die andere tief in die Manteltasche vergraben, so blinzelten sie in die tiefstehende Sonne. Vor ihnen tobte ein wilder Sturm. Er wogte hin und er wogte her. Das Ergebnis – lange Zeit offen. Würden die tapferen Deerns der 1. D von Käpt’n Jay den Elementen trotzen und eines verhindern: auf Grand auf Grund zu laufen und die Saison als Tabellenletzte zu beenden? Dieses finale Spiel im Jahr 2018 unter freiem Himmel gegen den Bramfelder SV, nach einer hart umkämpften Spielzeit, es war nichts für schwache Nerven.
Ein perfekter Herbstsamstag. Kalt, es ist schließlich November und somit fast schon Weihnachten, aber auch mit einer Sonne in Höchstform. Der Grandplatz am Othmarscher Kirchenweg leuchtet rot wie das Theaterblut von so manchem Halloween-Vampir wenige Tage zuvor. Die großen Eichen hinter der Gegengeraden werfen lange Schatten. Die gleißende Sonne linst vor einem tiefblauen Himmel über die Wipfel. Die Fenster im nahen Krankenhausgebäude reflektieren die Sonne wie ein mächtiger, allerdings recht Riegel-förmiger Leuchtturm. Im letzten Spiel der Saison geht es als Tabellenvorletzter heute gegen die 1. D vom Bramfelder SV. Die liegen vorab auf dem letzten Platz der sechs Mannschaften zählenden Staffel. Sie könnten die 93er-Deerns aber mit einem Sieg hinter sich lassen und die rote Laterne in Altona lassen.
Das gilt es natürlich zu verhindern. Altona 93 hingegen könnte mit einem Sieg sogar noch auf Platz vier vorrücken, da Victoria bereits in seinem letzten Spiel 2:3 gegen Scala verloren hat. Vor allem aber gilt: Als Schlusslicht will man die von den Ergebnissen her zwar durchwachsene, vom spielerischen Potenzial aber durchaus erfolgreiche Spielzeit auf keinen Fall beenden. Was hatten Jays Deerns aber auch für ein Pech. Gegen starke Gegnerinnen hielten sie oftmals lange mit. So führte man im Auswärtsspiel gegen den favorisierten HSV gleich drei Mal und musste erst in der Schlussminute das mehr als unglückliche 3:4 hinnehmen. Im Heimspiel gegen die traditionell sehr starken Mädels vom ETV lag Altonas 1. D ebenfalls vorn und wurde erst auf der Zielgeraden mit 1:2 abgefangen. Gegen Victoria hatte man, das darf anerkannt werden, verdient 5:0 verloren. Das Heimspiel gegen starke Scala-Mädchen aber sensationell mit 2:1 gewonnen. Nun also Bramfeld. Auch die waren oft knapp am Sieg dran gewesen, etwa beim 2:2 gegen Victoria und dem 3:3 gegen den HSV. Was haben sich die Mädels aus Hamburgs Osten heute vorgenommen?
Coach Jay kann auf ein starkes, eingeschworenes Team setzen. Für Altona spielen: Ana-Luisa, Eliza, Ella W., Emilia, Juli, Lily, Lina, Louise, Luna H., Luna P. und Maj. Und noch ein Altonaer Deern läuft an diesem ersten November-Wochenende auf: Carlotta Hillger von den B-Mädchen pfeift ihr erstes Spiel als frisch ausgebildete Schiedsrichterin. Auf der Haupttribüne in der Arena an der Autobahn – also den drei Parkbänken am Spielfeldrand – ist daher ein im Fußball seltenes Bild zu sehen: ein Schiedsrichter-Fanclub. Die Eltern der jungen Unparteiischen lassen sich den ersten Auftritt ihrer Tochter im komplett schwarzen Schiri-Outfit statt der gewohnten Spielkleidung in Schwarz-Weiß-Rot natürlich nicht entgehen. Mit kurzer Verspätung – das Spielfeld muss erst vom Elferfeld des vorherigen C-Mädchen-Spiels zum kleineren Neunerfeld umdekoriert werden – pfeift Referee Carlotta um kurz vor 16 Uhr zum ersten Mal in ihre neue DFB-Pfeife.
Das Spiel läuft. Und Altonas Deerns zeigen gleich, dass sie im letzten Spiel der Saison um jeden Zentimeter kämpfen wollen. Im vermutlich letzten Heimspiel auf Grand ever – Baurstraßenkunstrasen, ick hör‘ dir trapsen. Das Mittelfeld wird gegen nachsetzende Bramfelderinnen verteidigt wie das eigene Kinderzimmer gegen kleine Schwestern oder Brüder, oder noch schlimmer, gegen Eltern, die zwischen großen und kleinen Geschwistern vermitteln wollen oder gar was von „nun endlich mal aufräumen“ brüllen… Aber wir schweifen ab.
Das Team der 1. D von Altona zeigt sich im Übrigen selbst sehr aufgeräumt. Bramfeld im Angriff, Ella W. stellt den Fuß dazwischen, übergibt an Emilia, Lauf über die rechte Flanke, abgefangen. Der nächste Angriff der Ost-Hamburgerinnen, jetzt stellt sich Juli dazwischen, Übergabe an Eliza auf Links, weiter auf Emilia, auf Luna H., deren Schuss zur Ecke geklärt wird. Emilia führt aus, Louise kratzt einen Abpraller von der Torauslinie, der Ball fliegt ins rechte Halbfeld, wo Mittelfeldmotor Luna H. einen Volleyheber aus dem Fußgelenk zaubert, der zwei Eichhörnchen-Hools in den Bäumen am Spielfeldrand zur spontanen Laola-Welle inspiriert. Der Ball ist wie beflügelt, fliegt und fliegt, senkt und senkt sich, senkt sich weiter – und schlägt im linken oberen Eck des Tores ein. Das 1:0 für Altona in der siebten Spielminute.
Lange aber hält die Freude über den Führungstreffer nicht an. Bereits zwei Minuten später tanzt sich Bramfelds treffsicherste Spielerin, Stürmerin Madlen, durchs Altonaer Mittelfeld und obendrein leider auch durch die Abwehr und vollendet von rechts kommend aus vollem Lauf mit einem Kracher ins linke untere Eck – ihr bereits vierter Treffer diese Saison, von insgesamt nur sieben Bramfelder Toren. Keine Chance für Tormädchen Maj. Doch Altona lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Die Mannschaft arbeitet weiter emsig und konzentriert, erobert Bälle und leitet einige vielversprechende Angriffe ein.
In der 15. Minute – ein D-Mädchen-Spiel auf dem Neunerfeld dauert zwei Mal 30 Minuten – spielen Lily und Louise einen wunderbaren Doppel-Doppelpass, in der Fachliteratur auch als Quadrupel-Stafette bekannt. Das hellwache Tormädchen aus Bramfeld aber ist zur Stelle und entschärft den Abschluss. In der 17. Minute muss Emilia verletzt ausscheiden, sie hatte einen veritablen Bauchklatscher hingelegt, was auf Grand mindestens ebenso schmerzlich ist wie vom Dreimeterbrett im Freibad. Luna P. kommt herein und wehrt sogleich in ihrer charakteristischen Spielweise eine weite Flanke aus Bramfelder Reihen mit dem Kopf ab. 20. Minute: Noch ein schöner Angriff von Altona, Louise nimmt einen Ball mit der Brust an, sperrt ihn dann schön frei, so dass Eliza aufs Tor brettern kann – leider daneben. Im Gegenstoß kommt Bramfeld überfallartig durchs Mittelfeld, ein scharfer Schuss an den rechten Pfosten – der hätte gepasst, wenn nicht Maj mit einem Wahnsinnsreflex ihren Torhüterinnenfuß dazwischen bekommen hätte. Halbzeit.
Jetzt ist Luna P. im Tor. Ihr Pflichtspieldebüt zwischen den Pfosten, nachdem sie sich aber im Training besonders talentiert im Entschärfen von Gewaltschüssen gezeigt hatte. Und das soll kurze Zeit später auch hier gefragt sein. Zunächst aber treibt Altona das Spiel nach vorn weit in die gegnerische Hälfte hinein. Maj dribbelt sich über Rechts durch, Schuss, drüber. Dann steht Lina, bedient von Lily nach einer wunderbaren Laufleistung über Links, frei vorm Tor. Schuss, gehalten. Das Spiel wogt hin und her, auch Emilia hat sich von ihrem Sturz in der ersten Halbzeit erholt. Die Spielerinnen haben nicht nur wegen der nun tiefst stehenden Sonne so rote und heiße Köpfe wie die Mannschaft eines Piratensegelschiffs vor Kap Hoorn am sturmumtosten Südzipfel Südamerikas bei Windstärke 13.
Die letzten zehn Minuten sind angebrochen. Altona stürmt jetzt ununterbrochen. Fünf Minuten vor Abpfiff ist Eliza fast durch, zieht aus zweiter Reihe ab, gehalten. Eine Minute später ist es wieder Lily, die Maß nimmt, ihr Schuss aber ist letztlich zu schwach. Dann die Schlussminute. Bramfeld wirft alles nach vorne, will den Sieg und damit den letzten Tabellenplatz verlassen. Eine Stürmerin ist durch, läuft auf Luna im Tor zu, oh nein, das darf nicht sein, nicht schon wieder, einige Mütter und Väter können nicht hinschauen, Schuss… Gehalten! Luna hat sich mutig und stark wie Pippi Langstrumpf in den Schuss geworfen. Aber der Ball ist noch heiß, eine weitere Spielerin drischt ihn in Richtung Tor, Luna, halt ihn, jaaaa… Die Fans tanzen, Spielerinneneltern liegen sich in den Armen, der Anhang von Luna schüttelt ungläubig den Kopf, gibt’s doch nicht, die eigene Tochter im Tor, unüberwindbar wie Manuel Neuer, als der noch gut war… Abpfiff. Die Saison ist aus, aus, aus. Altona hat den vorletzten – oder, weil’s doch besser klingt, den fünften – Platz verteidigt. Forza!
Kompliment an dieser Stelle auch an Carlotta für eine saubere Schiedsrichterleistung. Aus gegebenem Anlass daher hier eine kleine und kostenlose Bastelanleitung für werdende FIFA-Referees: Diesen Bericht als PDF abspeichern, ausdrucken, laminieren, vergessen, in 15 Jahren zufällig kurz vorm Anpfiff des ersten Spiels als Bundesliga-Schiedsrichterin wiederentdecken und mit einer Träne der Rührung im Knopfloch an jenen weit, weit zurückliegenden 3. November 2018 denken. Jenen wunderschönen Herbstsamstag. Die Fans im Stadion an der Loki-Schmidt-Grundschule sahen aus wie Seefahrer kurz vor Kap Hoorn. Eine Hand über den zusammengekniffenen Augen, die andere tief in die Manteltasche vergraben…